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Unverwüstliche Erinnerung

Die Umnutzung von europäischen Bunkeranlagen

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Architonic Autor: Architonic Dipl. Designer Nora Schmidt Berlin Deutschland E-mail
Als wollten sie uns mit ihrer unverwüstlichen Präsenz zwingen, die Vergangenheit nicht zu vergessen. Als wollten sie uns sagen, dass Krieg allgegenwärtig sei – viele Jahre wurden die Bunker, die den 2. Weltkrieg meist ohne gravierende Schäden überstanden hatten, als hässliche Überbleibsel betrachtet, ohne dass man ihre geschichtliche und architektonische Bedeutung besonders hinterfragte. „Reichsbahnbunker Friedrichstraße“ in Berlin Mitte dient jetzt als Privates Museum der Boros Sammlung „Reichsbahnbunker Friedrichstraße“ in Berlin Mitte dient jetzt als Privates Museum der Boros Sammlung
Der französische Architekt und Philosoph Paul Virilio begab sich ab 1958 über mehrere Jahre hinweg auf Spurensuche, auf eine archäologische Entdeckungsreise in seiner Heimatregion an der französischen Atlantikküste. Dort wurde seit Anfang der 40er Jahre von den deutschen Besatzern der so genannte Atlantikwall errichtet, der aus insgesamt 16 400 Befestigungsbauten, also Bunkern bestand.
Die Eindrücke, die diese funktionslos gewordenen, gigantischen Hüllen ehemaliger Kriegsführung bei ihm hinterliessen, hielt er fotografisch und in den Texten seiner berühmten „Bunker Archäologie“ fest.
„Der Bunker [...] warnt uns weniger vor dem Gegner aus vergangenen Zeiten als vor dem Krieg von heute und morgen: vor dem totalen Krieg, dem überall vorhandenen Risiko, der Unmittelbarkeit der Gefahr, der großen Verschmelzung des Militärischen und des Zivilen, der Homogenisierung des Konflikts.“
Santiago Sierra in der Sammlung Boros. Einige der Kunstwerke wurden eigens für diesen ungewöhnlichen Ausstellungsort modifiziert Santiago Sierra in der Sammlung Boros. Einige der Kunstwerke wurden eigens für diesen ungewöhnlichen Ausstellungsort modifiziert
Trotz ihrer geschichtlichen, aber auch architektonischen Bedeutung wurden viele Bunker als Lagerräume oder gar Kuhställe verwendet. Es ist nicht zuletzt Paul Virilios Einfluss zu verdanken, dass diese kolossalen Spätformen europäischer Festungsarchitektur seit einigen Jahren an Aufmerksamkeit gewonnen haben und eine inhaltliche Auseinandersetzung sowie angemessene Umnutzungen stattfanden. Berlin Colour Sphere von Olafur Eliasson, 2006, Boros Collection Berlin Colour Sphere von Olafur Eliasson, 2006, Boros Collection
Bevor der Kunstsammler Christian Boros 2003 den 1942 erbauten Hochbunker in Berlin Mitte erwarb, diente der ehemalige „Reichsbahnbunker Friedrichstraße“ zu Kriegszeiten als zivile Luftschutzanlage. Nach der deutschen Kapitulation benutzte ihn die Rote Armee als Gefängnis. Zu DDR-Zeiten erhielt das geschichtsträchtige Gebäude von den Berlinern den Namen „Bananenbunker“, nachdem es vom volkseigenen Obst- und Gemüsekombinat zur Lagerung von Südfrüchten diente. Nach der Wende fanden in den 13 m hohen Räumen einige legendäre Party-Events statt.
Chistian Boros fand in dem zentral gelegenen Monolithen ein geeignetes Refugium für seine umfangreiche Sammlung zeitgenössischer Kunst. Nach dem vierjährigen Umbau durch Jens Casper vom Berliner Büro Realarchitektur konnten die ca. 500 Arbeiten von Künstlern wie Damien Hirst, Wolfgang Tillmans, Olafur Eliasson und Tobias Rehberger einziehen. Die wechselnden Ausstellungen werden auf einer Fläche von 3000 qm präsentiert. Einige Raumdecken und Wände wurden aufwendig herausgebrochen, dem Bauherren war es allerdings wichtig, das Gebäude so authentisch wie möglich zu belassen. Einschusslöcher aus dem Krieg und sich am Boden abzeichnende Wandspuren dokumentieren die ereignisreiche Geschichte des Bunkers.
Auf dem Dach des Kolosses befindet sich das gläserne Penthouse, das dem Hausherren und seiner Familie nicht nur als Wohnraum dient, sondern den massiven Unterbau gleichsam in den Sockel eines Königsstuhls verwandelt.
Der gigantische U-Boot-Bunker am Hafenbecken von Saint-Nazaire Der gigantische U-Boot-Bunker am Hafenbecken von Saint-Nazaire
Ein weiteres Beispiel gelungener Bunkernutzung ist die Gestaltung eines Kulturzentrums durch die deutsch-französischen Architekten LIN - Finn Geipel und Giulia Andi im bretonischen Saint-Nazaire. Der gewaltige ehemalige U-Boot-Bunker befindet sich am Hafenbecken, am Rande der nach dem Krieg neu errichteten Innenstadt. Er wurde in verschiedenen Etappen seit 1996 sukzessiv für verschiedene kulturelle Einrichtungen umgebaut, die seine zwingende Existenz neu beleben – das 295 Meter lange, 130 Meter breite und 19 Meter hohe Monstrum besteht aus 480 000 Kubikmetern Beton und ist nicht abreissbar.
Das vor zwölf Jahren von Manuel de Solà vorgestellte Konzept bezieht sich einerseits auf die skurrille Architektur und andererseits auf die städtebauliche Dominanz des Bunkers. Über eine Rampe kann der Besucher die bizarren Betonstrukturen auf dem riesigen Dach besichtigen. Durch sie sollten Bomben vorzeitig detonieren, und die Druckwelle vom Rest des Gebäudes fernhalten. Durch das Öffnen zweier Hallen des U-Boot Bunkers schafft der Architekt ausserdem eine Sichtachse zwischen Stadt und Hafenbecken. Pavillons bieten in dem Durchbruch Platz für Cafés und Geschäfte. Im Jahr 2000 wurde das von Francois Seigneur und Francois Confino geplante Museum Escal’Atlantique eingeweiht.
Die Kuppel des Berliner Flughafen Tempelhof, nun auf dem U-Boot-Bunker von Saint-Nazaire Die Kuppel des Berliner Flughafen Tempelhof, nun auf dem U-Boot-Bunker von Saint-Nazaire
LIN vollendete die Umnutzung mit dem Einbau eines multifunktionallen Ausstellungsraums, einer Bühne für zeitgenössische Musik, einer Bar sowie einer geodätischen Kuppel auf dem Dach des Bunkers. Durch eine grosszügige Achse erschliessen sich die einzelnen Räume.
Alle hinzugefügten Raumelemente sind deutlich als Einbau zu erkennen, wodurch die Architekten auf den Kontrast zwischen dem überdimensionalen Bunkerbau und dem architektonischen Eingriff verdeutlichen. Die ursprünglichen Wände wurden lediglich gereinigt, ihre Patina blieb erhalten.
Die beleuchtete Kuppel auf dem Dach, die zu Zeiten des Kalten Krieges dem Berliner Flughafen Tempelhof zur Luftraumüberwachung Osteuropas diente und dem Saint-Nazaire Bunker kostenlos zur Verfügung gestellt wurde, kommt fast wie ein Gedenklicht daher und verleiht dem surrealen Beton-Giganten einen gewissen Mahnmal-Charakter.
Die abgehängten LEDs bilden eine Licht-Decke Die abgehängten LEDs bilden eine Licht-Decke
Flaktürme sind Hochbunker, die gleichzeitig als Waffenplattform dienten und deshalb mit ihrer monumentalen Erscheinung mittelalterlichen Festungsbauten nahe kommen. Der Flakturm auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg wurde seit Jahren von verschiedenen Seiten umgenutzt und renoviert. Mittlerweile hat er sich als bedeutender Veranstaltungsort und Zentrum für Ateliers und Studios etabliert.
Das Hamburger Architekturbüro Heyden und Hidden Architekten gestaltete einen Kammerkonzertsaal, eine Nutzung, die sich bei den günstigen akustischen Bedingungen anbietet. Ein Raummöbel das Garderobe, Küche und Tresen aufnimmt, gliedert die Flächen in einen Eingangsbereich mit Servicenutzungen und den Veranstaltungsraum.
Der Flakturm auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg Der Flakturm auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg
Der Kammerkonzertsaal, gestaltet von Heyden und Hidde Architekten Der Kammerkonzertsaal, gestaltet von Heyden und Hidde Architekten
Das Fotoprojekt „Falsche Chalets“ von Christian Schwager, das im Museum für Gestaltung in Zürich ausgestellt wurde zeigt eine schweizerische Kuriosität von Bunkerbauten.
Zu Zeiten des Kalten Krieges wurden in der Schweiz unzählige Bunker zwecks Verteidigung und Zivilschutz gebaut. Noch bis vor wenigen Jahren wurde jedem Schweizer ein Platz in einer Zivilschutzanlage zugesichert. Einige der Bunker wurden als Wohnhäuser oder Scheunen getarnt. Christian Schwager machte sich auf den Weg und fotografierte einige besonders eigenartige Beispiele.
Als Stall getarnter Beobachtungsbunker, 1937, Sufers, Graubünden, Schweiz, Foto von Christian Schwager Als Stall getarnter Beobachtungsbunker, 1937, Sufers, Graubünden, Schweiz, Foto von Christian Schwager
Als Stall getarnter Artilleriebunker, 1941, Ennetberg, Glarus, Schweiz, Foto von Christian Schwager Als Stall getarnter Artilleriebunker, 1941, Ennetberg, Glarus, Schweiz, Foto von Christian Schwager